Die Viehwirtschaft im Siegerland
Unter den einzelnen Zweigen der Viehzucht besaß bis in die jüngste Zeit hinein die Rinderzucht die größte Bedeutung. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts herum gab es im Flecken
Hilchenbach bei etwa 70 Haushaltungen nur 31 Pferde, jedoch 437 Stück Rindvieh. Die Zucht des einfarbig roten Höhenviehs wurde bevorzugt, da sie sehr gute Zugtiere waren. Das war im Siegerland sehr wichtig,
denn bei dem ehemals vorherrschenden Klein- bzw. Kleinstbetrieb wurden die Spannarbeiten meist mit sogenannten Fahrkühen geleistet, auch die im Hauberg. Schafe durften nur gelegentlich im Hauberg weiden, Ziegen als
Waldvernichter war der Zugang verboten.
Der Haubergshirte war eine hochgeachtete und verantwortungsvolle Persönlichkeit im Ort. Ihm oblag vor allem eine ordnungsgemäße und schonende Hude im Wald. Bei großen Rinderherden war
ihm noch eine jüngere Hilfskraft, der Beihirte - “Oherde”1 genannt - beigegeben. Vormittags ging der Hirte durch die Straßen und blies gelegentlich auf einem Kuhhorn zum Sammeln der Tiere, die aus den Ställen zur Herde trotteten und gemächlich zur Weide zogen. Abends, so gegen 18 Uhr, wiederholte sich der Vorgang in umgekehrter Richtung. Die gesättigten Kühe suchten ohne Zwang den heimatlichen Stall auf, wo sie angebunden und gemolken wurden. Im Winterhalbjahr besorgte der Hirte die Hausschlachtungen, band Reiserbesen, flocht Körbe und Fegewannen. Auch als Tierheilkundiger wurde er oft bei Unpäßlichkeiten des Viehs und beim Kalben konsultiert. Lädierten Menschen konnte mancher Hirte bei Verrenkungen und Knochenbrüchen Hilfe geben, sogar bei Zahnweh. Die Viehhude war eine notwendige Nahrungsgrundlage, denn ohne sie konnte die Anzahl der Kühe nicht erhalten werden. Das Beweiden der Hauberge geschah auf genossenschaftlicher Grundlage. Dorfbewohner durften nur so viel Rindvieh mit eintreiben, wie sie im Winter aus eigener Futterbasis sättigen konnten. Die Rindviehhaltung im Siegerland war beachtlich groß. Nach einer Viehzählung im Siegerland im Jahr 1563 kamen auf 100 Einwohner 132 Stück Rindvieh. Den großen Futterbedarf des Großviehbestandes deckte im Sommer die Haubergsweide. Im Winter musste das von den Wiesen gewonnene Stallfutter eingesetzt werden. Für die Wiesen in den Talsohlen stand lediglich eine Fläche von 10 % der Gesamtfläche zur Verfügung. Die notwendige Futtermenge dieser Wiesen konnte nur durch Leistungssteigerung mittels künstllicher Bewässerung ermöglicht werden (siehe hierzu unsere Site “Wiesenbau”).
Eine Statistik aus dem Jahr 1837 besagt, daß der Rindviehbestand im Siegerland mit der Zahl der Einwohner in etwa gleich groß war. Es ist anzunehmen, daß keine größeren Mengen an
Fleisch außer Landes gebracht wurden, sondern der heimischen Bevölkerung als Nahrung verblieben. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Aufzeichnung von Jung Stilling, in der er die Ernährungsweise in der
damaligen Zeit, beispielsweise für Siegerländer Hammerschmiede überlieferte: “Weil diese Leute sehr schwere Arbeit thun mussten, so verwendeten sie vieles auf ihren Tisch, sie liebten nicht den Pracht, viel
weniger Leckereien; aber kraftvolle Speiss und Trank musste vollauf im Überflusse da seyn: morgens eine Biersuppe, mit Ram und ein paar Eyern, steif gebrockt mit gutem Roggenbrod, dazu einen fetten Pfannkuchen von
Weizenmehl mit Speck und Eyern, und darauf ein Butterbrod, auf welches die herrlichste süsse und schmackhafteste Butter Fingeres dick gestrichen war: dieses zusammen machte das Frühstück eines Hammerschmiedes aus.
Des Mittags eine kraftvolle Fleischbrühe von Weissbrot steif gebrockt, mit allerhand Kräutern und Gewürzen reichlich versehen, dabei eine grosse Schüssel des schönsten Gemüse auf die fetteste und beste Weise
zubereitet, nebst einem mächtigen Stück Ochsenfleisch, das auf der Schüssel von Fettigkeit zitterte, und dann wieder ein gutes Butterbrod zum Schluss. Des Abends endlich machte ein nusbraun gebratenes grosses
Kalbviertel, mit Salat und Eyern den Beschluss. Das fette und kostbare Siegensche Bier wurde dabei den ganzen Tag nicht gespart.”
Der große Mediziner, Botaniker und Philanthrop Johann Christian Senckenberg aus Frankfurt am Main (1707-1772), der 1736 im Siegerland weilte, führte in seinen Reiseberichten aus, daß
Ochsen nach der Zeit auf der Weide im Winterhalbjahr fett gemästet werden: “Die Ochsen so den sommer auf die weyde gegangen und fleischig sind worden, macht man .... mit gequellten Cartoffeln auch fett. Ganz
dürre taugen nicht zum fett machen im Herbst”. Einen Ochsen fett machen bedeutete immer einen wesentlichen Beitrag zum knappen Geld zu liefern. Auch der Beweis, daß Ziegen von der Obrigkeit geächtet wurden
wird hier erbracht: “Ziegen und Gänse leidet man hier nicht, verderben wiesen und Wald”. Sie wurden zu dieser Zeit nur von armen Leuten gehalten.
Den stärksten Pferdebestand hatte der Ort Müsen, wo es vor allem Zugpferde für die Nutzung außerhalb der Landwirtschaft gab. Während für 1816 noch keine Ziegen verzeichnet
wurden, gab es 1861 bereits 56, 1892 schon 261 und 1907 sogar 409. Die Ziegen haben jedoch nicht Schafe ersetzt sondern wurden von Leuten mit wenig oder keiner Weidemöglichkeit anstelle einer Kuh gehalten.
Kühe nahmen dagegen immer mehr ab und ging von 378 Stück im Jahre 1861 bzw. 325 Stück im Jahre 1892 auf 244 im Jahre 1907 zurück. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der einzelne Schafhalter im Mittel 1-2
Schafe, da die Versorgung mit Wolle im Vordergrund stand. Schafe wurden danach häufig zur Plage, da man sie morgens aus dem Stall trieb und nach Belieben auf fremden Grundstücken weiden ließ, wo sie
erheblichen Schaden anrichteten. 1907 gab es daher nur noch 63 Schafe in der Stadt Hilchenbach, während es 1816 noch 216 und 1861 123 gewesen waren.
Die Entstehung der Viehweiden
Die Viehbesitzer der Dörfer bildeten die Hudegemeinden. Sie hatten das Recht zur Weidenutzung in den Haubergswaldungen. Als die Haubergsgenossenschaften aus wirtschaftlichen
Gründen zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Aufforstung ihres Besitzes übergingen und damit die Waldhude unmöglich machten, verlangten die Hudegemeinden einen Ersatz. Vor allem die Kleinlandwirte hatten
keine andere Möglichkeit als die Haubergsweide zu nutzen. Sie war damit die einzige Möglichkeit der Viehhaltung.
Um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert wurde damit begonnen, das Weiderecht der Hudegemeinde durch die Anlage von Viehweiden auf dazu geeigneten Haubergsflächen abzulösen.
Man kultivierte die meisten "Weidekämpe" nach einem vereinfachten Verfahren. Der Hauberg wurde abgeholzt, gehackt, gebrannt und mit Roggen bestellt. Im nächsten Jahr wurde Klee- und Grassamen gesät.
Die Wurzelstöcke blieben im Boden und verrotteten allmählich.
Quellennachweise
1Ohierde (regional auch anders benannt) sind nach dem Siegerländer Wörterbuch Gehilfen des Kuhhirten, gewöhnlich ein halbwüchsiger, eben schulentlassener Junge, der für ein Jahr zur Kräftigung seiner Gesundheit den Hirten begleitet, zu deuten als Unhirte, ein Hirte mit geringerem Stand - siehe hierzu das “Siegerländer Wörterbuch” von Jakob Heinzerling und Hermann Reuter, 2. Auflage, neu bearbeitet von Hermann Reuter, Herausgegeben von der Stadt Siegen, Forschungsstelle Siegerland, Verlag Vorländer Siegen, 1968
Zahlreiche Informationen sind aus einer Veröffentlichung "Stadtmuseum Hilchenbach in der Wilhelmsburg" auszugsweise übernommen. Die vollständige Dokumentation ist im
Stadtmuseum erhältlich.
Ergänzende Informationen stammen aus dem Werk von Friedrich Wilhelm Busch “Von der Waldschmiede zur Eisenindustrie”, Zweieinhalb Jahrtausende Eisenerzeugung und
Eisenverarbeitung im Siegerland, verlag die wielandschmiede, Kreuztal, 1997
Weitere Informationen stammen aus “NINGELN BAU”, Ein Beitrag zur Industriegeschichte in Hilchenbach, Ulrich Schmidt, Hilchenbach 1991, mit heimatgeschichtlichem Kapitel
Industriegeschichte von F.W. Busch und F. Klein
Die Ausführungen über den Besuch Senckenbergs im Siegerland stammen aus “Johann Christian Senckenberg 1736 im Siegerland” von Karl Löber, Siegerländer Beiträge zur
Geschichte und Landeskunde Heft 23, Siegen 1980, Selbstverlag des Siegerländer Heimatvereins, Siegen
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